Störfall macht Einfall.

Kennen Sie das: Sie sitzen an irgendeinem Konzept, zerbrechen sich gerade den Kopf über irgendetwas, Sie suchen fieberhaft nach einer Idee oder zermartern sich das Gehirn über … was auch immer – und plötzlich schneit einer ihrer Kollegen herein und fängt an, Ihnen die Bundesligaergebnisse der letzten Begegnungen zu erörtern oder den neuesten Klatsch und Tratsch vom Flurfunk breitzutreten. Spontan haben Sie drei Möglichkeiten, zu reagieren:

1. Sie waren ein Fuchs und haben bereits im Vorfeld Ihre Bürotür verbarrikadiert oder anders dafür gesorgt, dass nichts und niemand Sie unterbrechen kann.
2. Sie komplimentieren den Kollegenstörer umgehend hinaus und wenden sich wieder Ihrer Arbeit zu.
3. Sie interpretieren die Unterbrechung Ihrer Arbeit als kleine Pause und nehmen sich kurz Zeit für den thematischen Ausflug in eine andere Welt.

Vorausgesetzt, es handelt sich nicht um eine Störung, die in dieser Form alle paar Minuten auftritt, haben die Kandidaten der Gruppe 3 einen Vorteil: Sie unternehmen einen Kurztrip, weg von ihrer eigentlichen Aufgabenstellung, hin zu etwas inhaltlich ganz anderem. Und das ist der Kreativität zuträglich.

Die sogenannte Routinearbeit wird in den meisten Fällen erledigt, ohne, dass man großartig nachdenkt und es währen dessen zu nennenswerten sozialen Interaktionen käme. Bei einer unerwarteten Störung des gewohnten Geschehens, wandert die Aufmerksamkeit weg von der Arbeit, hin zur Quelle des neuen Ereignisses. Was geschieht? Man rückt gedanklich oder auch physikalisch, also körperlich, einen Moment lang von der eigenen Beschäftigung ab und sieht sie
aus einem ganz anderen Blickwinkel, sobald man sich ihr wieder zuwendet. Dadurch steigert sich nachweislich die kreative Kompetenz für Denk- und Lösungsansätze aller Art. Zu dieser Erkenntnis passt auch die Behauptung Allan Snyders von der Universität von Sydney: Wenn wir anfangen zu denken, wir seien Experten auf einem Gebiet, entsteht die Gefahr, das wir aufhören, kreativ zu sein! Diese These belegte Snyder mit entsprechenden Versuchen. Und tatsächlich: Das Gehirn wird ein wenig faul, gewöhnt sich an bestimmte Denk- und Handlungsmuster und daran, nicht mehr über den Rand der Schädeldecke denken zu müssen. Ein Aufrüttelmoment wäre demnach mehr als effektiv und wünschenswert.

Eine Studie an der Universität von Utah, unter Leitung von Gerardo Okhuysen, belegte den Sinn von gezielten Unterbrechungen im kreativen Prozess: Die Probanden wurden in eine Vielzahl kleinerer Arbeitsgruppen eingeteilt und aufgefordert, sich innerhalb dieser Grüppchen eine Lösungsstrategie für ein fiktives Problem zu überlegen. Die Hälfte der Gruppen wurde, während des Versuchs von einem Wissenschaftler unterbrochen, der sie bat, spontan eine andere Aufgabe zu erledigen, die nicht im Entferntesten etwas mit der ursprünglichen Problemstellung zu tun hatte. Im Endeffekt präsentierten die „gestörten“ Arbeitsgruppen im Anschluss viel mehr Lösungsansätze als die „ununterbrochenen“ Mit-Probanden-Grüppchen – ersteren hatte die Auszeit einen Abstand zu ihrer Aufgabe beschert, der wohl in eine neue oder andere Betrachtungsweise der Aufgabe resultierte. Den Forschern fiel außerdem auf, dass Gruppen, die sehr vertraut miteinander waren, selbst intern für kleine Pausen und Ablenkungen sorgten und die versuchsbedingte Unterbrechung quasi überflüssig machten. An dieser Stelle sei noch einmal gesagt, dass hier immer von geplanten, nicht ZU häufig auftretenden Ablenkungen die Rede ist. Natürlich haben permanente Störungen einen gegenteiligen Effekt.

Apropos „Störungen“: Schon ein altes Sprichwort besagt, Genie und Wahnsinn lägen dicht beieinander. Und inzwischen bestätigt auch die Wissenschaft, dass mitunter Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und Kreativität zu finden sind. Der Brite Felix Post und der Amerikaner Arnold Ludwig fanden unabhängig von einander heraus, dass die berühmten Wissenschaftler, Musiker, Maler und Literaten der Vergangenheit überdurchschnittlich oft als psychisch krank galten, wie die Beispiele von Robert Schumann, Vincent van Gogh, Hermann Hesse, Heinrich von Kleist, Virginia Woolf, Sylvia Plath und Ernest Hemingway belegen – um nur einige zu nennen. Man könnte behaupten, es wäre eine Zeit lang ein regelrechter Sport gewesen, den Größen der vergangenen Epochen die entsprechende psychische Krankheit zuzuordnen. Wobei die Erhebungen lediglich auf Aussagen und Beschreibungen von Zeitzeugen gründen und demnach nicht unbedingt als hieb- und stichfest gelten können.

Studienergebnisse der Gegenwart, nämlich aus dem Jahre 2011, belegen inzwischen, dass Menschen mit einer sogenannten bi-polaren Störung – und zwar diejenigen mit einer diagnostizierten Schizophrenie – signifikant häufiger einen Beruf im Bereich der bildenden Künste ausüben. Und auch dem britischen Psychiater und Buchautor Neel Burton zu Folge, sollen bi-polare Störungen, zehn bis vierzig Mal häufiger unter Künstlern als in der sonstigen Bevölkerung auftreten.

Es scheint, als steckten die Anlage für die Kombination von psychischem Leiden und Kreativität ein Stück weit in unseren Genen. Sehr vereinfacht ausgedrückt, sorgt nämlich derselbe Gentyp, der den Ausbruch einer Psychose wahrscheinlich macht, im gleichen Maße für ein äußerst kreatives Potential, wie ungarische Forscher 2009 an der Semmelweis-Universität herausfanden. Zudem sorgt das erwähnte Gen dafür, dass die Filterfunktion des Gehirns beeinträchtigt wird, wodurch ein Vielfaches an Informationen und Eindrücken freie Bahn in die zentrale Verarbeitung haben; ein regelrechtes Bombardement, was sowohl zu vermehrter Kreativität führt, als auch mit ihr verarbeitet wird, weswegen vielleicht gestalterische und musische Therapien in der Psychiatrie oft erfolgreich eingesetzt werden.

Es scheint, als ob die fehlende Filterfunktion die Betroffenen eher über die Grenzen gehen lässt, die zum Kreativsein überschritten werden müssen. Auch der bereits erwähnte Allan Snyder vertritt die Auffassung, dass Kreativität immer auch eine Art Rebellion bleiben wird, da man ausgesprochen subversiv sein müsse, um Grenzen zu überschreiten, Konventionen zu brechen und ausgetretene Pfade zu verlassen. Bewirkt also, im Umkehrschluss, der Filtermechanismus, der psychisch Gesunde vor dem Verrücktwerden bewahrt, dass der Kreativität zum Schwimmen Betonschuhe angezogen werden? Die Wahrheit liegt, wie so häufig, in der Mitte: Vermutlich darf der Filter, fachmännisch übrigens als „latente Inhibition“ bezeichnet, weder komplett durchlässig, noch zu eng stehen, um kreativ schaffend zu werden.

Nun ist eine Störung an Körper oder Geist ja eher verhindert als erwünscht werden – bringt ja auch viele andere Probleme mit sich. Es reicht auch die Störung von außen – wie wir gesehen haben. Probieren Sie doch einfach einmal aus, ob Ihre Kreativität von einer kleinen Störung profitiert – und interpretieren Sie das Klopfen des Kollegen an die Tür (der mit den Bundesligaergebnissen) so, als sei es eine super Innovation, die bei Ihnen anklopft. Um bald Ihr Leben zu bereichern.