Wer gut hören kann, kann gut hirnen.

Hatten Sie das auch schon mal: Sie werden fast verrückt, weil Ihnen jemand gegenüber sitzt, der laut kaut? Wissen Sie, was ich meine? Nicht die offensichtlichen Schmatzer, die ohne Frage jeden stören, sondern die Menschen, die Geräusche machen, ohne wirklich Anstoß zu erregen. Es sei denn … man verfügt über ein außergewöhnlich kreatives Gehirn!

Es ist nämlich gar nicht ungewöhnlich, dass die Menschen, denen ein kreativer Kopf nachgesagt wird, häufig auch diejenigen sind, die sich als geräuschempfindlich entpuppen. Scheinbar versagt nämlich in ideenreichen Denkzentralen der kleine Mann im Ohr, der dazu da ist, unwichtige Töne von wichtigen zu unterscheiden und in Folge nur die wirklich wichtigen vorbeizulassen. Das Ganze ist im Grunde ein unwillkürliches neurologisches Geschehen, dass uns vertraute (unwichtige, da ungefährliche) Geräusche einfach überhören lassen soll. So können wir uns unbeirrt dem widmen, was wir gerade in der Mache haben. Unser schreiendes Kind oder ein Martinshorn dagegen, erfordern augenblickliches Unterbrechen unseres Tuns und sofortiges Handeln – und damit eben auch: Hinhören.

Darya Zabelina, Daniel O’Leary, Narun Pornpattananangkul (wirklich, heißt so!), Robin Nusslock und Mark Beeman von der Northwestern University fanden nun einen Zusammenhang heraus, zwischen Kreativität und dem Unvermögen, Geräusche zu filtern. Zunächst mussten ihre menschlichen Versuchskaninchen einen Fragebogen ausfüllen, mit dem ermittelt wurde, inwieweit die Probanden im täglichen Leben Kreatives leisteten. Danach folgte ein Test, der das kreative Denkvermögen jenseits des Tellerrands prüfen sollte. Während sie dann noch weitere Aufgaben lösen mussten, wurden die Studienteilnehmer im Folgenden einer Reihe von Pieptönen ausgesetzt. Dabei wurden ihre Gehirnaktivitäten gemessen – um zu überprüfen, inwieweit auch wirklich die neurophysiologische Antwort auftrat, die normalerweise etwa 50 Millisekunden nach einem akustischen Reiz im Gehirn erfolgen soll.

Bei der Auswertung aller Test stellte sich dann heraus, dass die kreativen Probanden deutlich sensibler auf die akustischen Reize reagiert hatten. Die Wissenschaftler schlussfolgerten, dass geräuschanfälligere Menschen auch gleichzeitiger kreativer sind, in Ideensessions mehr und besser hirnen. Offenbar sind sie es gewöhnt, ihre Aufmerksamkeit über mehrere Reiz-Quellen gleichzeitig erstrecken zu können. Sie nehmen also mehr auf und können nicht nur schneller und breiter assoziieren, sondern auch thematisch von einander entfernte Inhalte sehr gut zu Ideen oder Konzepten zusammenfügen.

Wer demnach vom echten Leben mit seinen krachenden Absätzen, ratternden Rollkoffern und streitenden Nachbarn nicht immer unangestrengt bleibt, kann sich ab sofort damit trösten, dass er oder sie höchstwahrscheinlich einen kreativen Geist besitzt.
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass die Studie sehr klein war und Kreativität eine schwer messbare Größe ist. Deswegen könnte man auch über die Sinnhaftigkeit der Fragebögen diskutieren, nach denen die Studienteilnehmer – subjektiv –als „kreativ“ oder „weniger kreativ“ eingeteilt wurden. Wir nehmen das Ergebnis an dieser Stelle einfach mal so hin.

Das Phänomen gibt es übrigens auch in gesteigerter Form. Da heißt es „Misphonie“, wird als Hass auf Geräusche übersetzt und von dem amerikanischen Neurowissenschaftler-Paar Pawel und Margaret Jastreboff als „selektive Geräuschintoleranz“ beschrieben. Kurz gesagt: Die Betroffenen werden von bestimmten Geräusche regelrecht zum Ausflippen gebracht. In vielen Fällen ist die Sache therapierbar und in einem Internetforum las ich, dass Misphoniker oft eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe haben – vielleicht liegt ja auch hier die Ursache in einem durchlässigeren Filter …

Auch die Nase beeinflusst uns beim Kreativsein und zwar so subtil, dass wir es in den meisten Fällen gar nicht merken. Gerüche gehen quasi direkt ins Gehirn, wo sie unmittelbar mit Emotionen und Erinnerungen verknüpft werden. Manch einer, wenn nicht sogar fast jeder von Ihnen, wird sich beispielsweise noch genau an den Geruch seiner Grundschule erinnern. Oder an einen Ort, wo man als Kind etwas Entscheidendes erlebt hat: Die schönen Momente, der Siegesjubel und die Auszeichnung, aber auch die weniger guten Sachen, wie Angstschweiß und die Hänselleien, die man vielleicht erlebte. Auch das Aftershave eines Exfreundes oder das Parfum einer unglücklichen Liebe können uns noch nach Jahrzehnten auf dem Bürgersteig, inmitten vieler Menschen, flüchtig streifen und schon sind wir für einen Moment ganz weit weg.
Wenn man bedenkt, dass Entspannung wahre Kreativ-Überflüge auslöst, kann man sich den Geruchsinn dahingehend zu Nutze machen, dass man sich mit einer Duftlampe in Schaffensstimmung bringt. Wem solche Wohnaccessoires zu esoterisch sind, der greift vielleicht einfach zur Apfelsine – und kriegt dann nicht nur über die Nase, sondern auch vom Vitamin C einen Kick. Angeblich hatte ja auch der gute alte Schiller in seine Schreibtisch einen vor sich hin gammelnden Apfel.
Je angenehmer Ihnen der Geruch ist, der Sie umgibt, desto besser. Eigentlich logisch. Für die Kreativität sollen Zimt und Vanille besonders geeignet sein, aber probieren Sie am besten einfach ein wenig herum. Achtung bei Lavendel – das entspannt nur in homöopathischen Dosen. Wer es übertreibt, erzielt einen gegenteiligen Effekt.
Wer in einem Team kreativ sein möchte, dem verrate ich noch ein inspirierendes Warm-Up mit Düften: Lassen Sie Ihre Mitarbeiter zum nächsten Meeting etwas mitbringen, was riecht – oder besser gesagt: duftet. Es sollte so verpackt sein, dass man daran schnuppern kann ohne zu sehen, was man da riecht. Pfeffer und anderer Schabernack sollte sich natürlich von selbst ausschließen, aber vorsichtshalber könnten Sie den Hinweis vielleicht geben. Die Kollegen dürfen sich im Vorwege nicht verraten, was sie eingepackt haben. Dann werden die Geruchsproben getauscht; keiner weiß also, was er im nächsten Moment riechen wird. Was folgt, ist eine Runde, in der jeder nacheinander eine Nase voll Geruch nimmt und beschreibt, was für Assoziationen, Gefühle und Bilder in ihm oder ihr aufkommen. Und lassen Sie Einwort-Antworten nicht gelten, sondern fragen Sie nach Farbassoziationen, Situationen, Emotionen und Geschichten. Nach so einer Übung haben Sie gute Voraussetzungen für einen Arbeitsprozess geschaffen, der sich über den üblichen Denk-Tellerrand bewegen können wird.

Zum Ende dieser Geschichte möchte ich noch auf einen anderen Sinn kommen, der für Schaffensvorgänge sehr wichtig ist: Das Sehen. Scott Barry Kaufman, Psychologe an der New York Universität, hat sich eine Zeit lang mit dem beschäftigt, was kreative Menschen anders machen, als weniger kreative. Eine seiner Erkenntnisse lag darin, dass innovative Menschen deutlich mehr beobachten, als andere. Seiner Meinung nach interessieren sie sich von Natur aus für das Leben und Tun anderer und kommen dabei auf die eine oder andere Idee für neue Werke. So war es wohl auch mit Walt Disney, der seiner Tochter beim Schaukeln zusah, als er plötzlich die Idee für Disneyland, einen Spielplatz für Kinder UND Erwachsene, bekam.

Und jetzt wünsche ich Ihnen viel Inspiration beim Riechen und Sehen – und einen ruhigen Arbeitsplatz für Ihren akustischen Filter!