Stechuhr vs. Stechmücke – was beflügelt Ideen?

Vor einiger Zeit überraschte der Unternehmer Richard Branson mit einer gar nicht so ganz neuen Art der Urlaubsplanung: In der Virgin-Unternehmensgruppe, zu der unter anderem auch die Virgin Airlines zählt, konnten Angestellte ab sofort frei nehmen, wann immer sie es wollten.
Voraussetzung: Es ist sichergestellt, dass sie und das gesamte Team mit dem jeweiligen Projekt im Zeitplan lägen und das Unternehmen durch die Abwesenheit des Mitarbeiters keinen Schaden nehmen würde.
Branson mochte eine Art Vision haben, aber nicht wenige Leute, mit denen ich „damals“ über diese Sache sprach, hielten Branson für einen Mann, der seine Visionen demnächst in leergefegten Büro haben würde – denn alle anderen wären ja bestimmt im Urlaub.

Jedoch hatten Statistiken längst belegt, dass jeder amerikanische Arbeitnehmer im Jahr 2013 durchschnittlich drei bezahlte (!) Urlaubstage verfallen ließ. Das bedeutet, laut Philosophie-Professor Christopher Morgan-Knapp (Binghamton University im US-Bundesstaat New York), in Zahlen: etwa 427.000.000 ungenutzte Tage Freizeit. Gerechnet in Jahren wären das insgesamt über 1 Million. Genügend Zeit für ein paar Runden Evolution, inklusive Eiszeit und Wiederauftau.

Das Phänomen tritt übrigens auch hierzulande auf: Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ergab, dass auch wir im Durchschnitt jährlich drei Tage verschenken und besonders Jobeinsteiger oft auf Freizeit verzichten. Viele sehen es als Investition in ihre Karriere. Na ja, es mag wohl sein, dass auch solche Dinge wie die häufig beschriene Work-Life-Balance erst einmal gelernt werden müssen – und das am besten, ohne sich aus dem Hamsterrad im hohen Bogen in den nächsten Burnout katapultieren zu lassen.

Und wer von Zahlen noch nicht genug hat, bekommt von mir noch eine Erkenntnis des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI): Die Menschen dort haben nämlich ausgerechnet, dass durch den Verzicht auf bezahlte Urlaubstage jedes Jahr in Deutschland nicht weniger als 75 Millionen Urlaubstage verschenkt werden. In Geld entspricht diese Zahl etwa einer Summe von neun Milliarden Euro. Ein hübsches Sümmchen.

Mit diesen Zahlengebirgen im Hinterkopf erscheint das Vorgehen Bransons nach Meinung von Morgan-Knapp auf einmal gar nicht mal so merkwürdig, wie auf den ersten Blick angenommen. Es sieht so aus, als gehöre effektive Arbeitszeit zu den Prioritäten eines beschäftigten Menschen. Wie sonst lässt es sich erklären, dass sich offenbar sehr viele Menschen zu unbezahlter Mehrarbeit hinreißen lassen, anstatt diese Zeit mit ihrer Familie, Freunden oder einem Hobby zu verbringen? Wie auch immer: Arbeit statt Entspannung und Zerstreuung? Das klingt nicht nur in den Ohren des Professors nach einer schlechten Balance.

Und nicht nur Statistiken beweisen, dass die Leute ihre Arbeit oft mehr zu schätzen scheinen als ihr Privatleben, sondern auch der Blick aufs eigene Wirken; wenn man mal ganz ehrlich ist.
Christopher Morgan-Knapp meint, den Grund dafür zu kennen: Ursache seien die Ziele, die man verfolgt; diese Ziele wären nämlich andere, wenn man arbeitet, als wenn man sich in seiner Freizeit etwas vornimmt. „Freizeit-Vorsätze“ wären zum Beispiel, etwas mit den Kindern zu unternehmen oder Qualitätszeit mit dem Partner zu verbringen. Im Job möchte man dagegen vorankommen, Kariere machen, Abschlüsse generieren – oder einfach auch nur seine Stelle behalten. Dadurch entsteht fast immer eine Art Wettkampf mit Kollegen.
Wenn es also kompetitive und nicht-kompetitive Ziele für einen Menschen gibt, scheint es für die meisten von uns auf den ersten Blick sinnvoller zu sein, mehr Energie in das Erreichen der Wettbewerbssache zu stecken.

Stellen Sie sich vor, Sie haben an einem Sonnabend die Wahl zwischen folgenden Aktivitäten: Entweder bauen Sie mit Ihren Kindern weiter an dem schon lange ruhenden Baumhaus-Projekt. Oder Sie nutzen die Zeit, noch ein wenig herumzupfeilen – und zwar an Ihrer Promotion/Ihrem neuen Buch/einer Präsentation, die Sie in der nächsten Woche vor wichtigen Entscheidungsträgern halten dürfen … Na?
Ein Blick in die Denkwindungen Ihrer grauen Masse gibt Aufschluss: Ein Wesen, das ich das Leistungs-Gewissen nennen möchte, lässt Sie etwas denken, wie: „Was passiert mit dem Baumhaus, wenn wir uns an die Arbeit setzen?“ Antwort aus dem Inneren: „Nichts.“ „Und was passiert, wenn die Arbeit liegenbleibt?“ Alarmsirenen schrillen aus dem Unterbewusstsein: „Dann ist vielleicht jemand anderes schneller und wir haben das Nachsehen!“ Während man bei liegenbleibenden Hobbys scheinbar immer wieder dort weitermacht, wo man aufgehört hat, entwickelt ruhende Arbeit eine eigene Dynamik; man hat das Gefühl, irgendwie einen Rückstand ausgleichen zu müssen. Schließlich hat irgendjemand, irgendwo auf der Welt bestimmt schon weitergemacht. Kennen Sie den Ausdruck: Die Arbeit häuft sich? Im Zusammenhang mit Freizeitvergnügen habe ich den Begriff noch nie gehört. Folglich kostet es einen im Endeffekt mehr, das Baumhaus ruhen zu lassen, als die „echte“ Arbeit. Morgan-Knapp sieht hierin den Grund für die riesige Anzahl verfallender Urlaubstage. Seiner Meinung nach findet schichtweg ein zeitliches Überinvestment in wetteifernde Ziele statt.

Zurück zum Anfang der Geschichte und der Idee, weder feste Arbeitszeiten, noch eine bestimmte Anzahl von Urlaubstagen festzulegen. Ja, richtig gelesen: Nicht nur der Urlaub, auch die Arbeitszeiten sind in einigen erfolgreichen Unternehmen flexibel gestaltet. Und zwar zugunsten von kreativen Einfällen und innovativen Ideen. Schon 2004 überdachte der Video-on-Demand-Riese Netflix seine Urlaubsregelungen. Es heißt, ein Angestellter hätte einen der Gründer des Unternehmens, Reed Hastings, darauf angesprochen, dass er zwar keine festen Arbeitszeiten hätte, aber seine Urlaubstage noch immer genau gezählt würden. Dabei war es bei Netflix – wie auch in vielen anderen Firmen auf dieser Welt – nicht unüblich, dass Angestellte auch nach Feierabend und an den Wochenenden ihre Mails checkten und bearbeiteten. Oder sich auch auf anderen Wegen Arbeit nach Hause mitnahmen. Andererseits gab es, wie ebenfalls überall anders auch, wieder Gründe, die Arbeit ruhen zu lassen; sei es, weil man das Kind aus dem Hort abholen muss oder schlichtweg einfach mal eine Pause brauchte, um überhaupt wieder auf Ideen zu kommen.

Kreativität liebt die Freiheit, und umgekehrt. Netflix ist auf die innovativen Geistesblitze von Menschen angewiesen. Darum ist das Unternehmen aus dem Silicon Valley gut beraten, alles dafür zu tun, dass diese Kreativität überhaupt aufkommen kann. Man ist sich darüber im Klaren, dass es darauf ankommt, was Mitarbeiter leisten und nicht, wie viele Stunden am Tag sie arbeiten. Gegenüber der Presse ließ das Unternehmen dann auch verlauten, dass Richtlinien, Vorschriften, Regeln und Bestimmungen nichts weiter als Innovationsmörder seien und man schließlich wüsste, dass Menschen ihr Bestes geben, wenn sie unbelastet seien. Womit also die Frage geklärt wäre: Eine Stechmücke im Urlaub-Hotelzimmer hilft Innovationen deutlich stärker auf die Sprünge als eine Stechuhr am Eingang Ihres Unternehmens.