Teil 1 der Inseltrilogie. Nirgendwo auf der Welt wird der Mensch mehr dazu gezwungen, innovativ und kreativ zu sein, als an Orten, deren dauerhafte Besiedlung schon eine besondere Herausforderung darstellt. Inseln sind solche Orte. Und heutzutage ist es vor allem die Versorgung mit Energie, die Innovation förmlich erzwingt – besonders, weil Nachhaltigkeit gefragt ist. Schließlich denkt man in unseren Tagen weiter als von der Wand bis zur Tapete – und möchte auch seinen Nachfahren eine Welt hinterlassen, in der nicht alles zerstört und erschöpft wurde.

Folgen Sie mir in den nächsten drei Ausgaben der Out of the Box-Box auf eine Gedankenreise zu drei Inseln, die jede auf ihre Art als Beispiel dafür dienen können, wie aus Visionen Innovationen werden können. Und zwar solche, die uns irgendwie allen zugute kommen.

Unser erstes Ziel ist El Hierro. Sie ist die kleinste der sieben kanarischen Inseln. Heute ist nichts mehr davon zu spüren, dass der 268 Quadratkilometer große, beinahe boomerangförmige Landfleck im atlantischen Ozean Königin Isabella II. von Spanien und ihren Amtsnachfolgern in erster Linie als steiniges Exil für unbequeme Landsmänner diente. Ganz im Gegenteil: El Hierro hat sich zum Paradebeispiel dafür gemausert, was sozial, ökologisch und ökonomisch machbar ist, wenn man beginnt, eine Vision zu leben.

Lange galt das Eiland als rückständigste Insel des Archipels und wurde von den Nachbarn belächelt. Hier gab es keinen Massentourismus und keine Bettenburgen. Was vor noch nicht allzu langer Zeit als „etwas unterentwickelt“ gegolten haben mag, lässt sich jetzt als Gnade des späten Erwachens bezeichnen. Heute wird El Hierro gerade wegen seiner Naturbelassenheit und dem Erholungsfaktor abseits überlaufener Reiserouten in vielen Reiseführern hervorgehoben.

Fernando Gutierrez Herwandes, Leiter der Fischerei-Genossenschaft, verwirklichte auf El Hierro gemeinsam mit 60 Fischerfamilien seinen Traum eines Meeresschutzgebietes. Nach mehreren Jahrzehnten Kampf, Diskussionen, Auseinandersetzungen und jeder Menge Arbeit, ist der Atlantik vor dem malerischen Örtchen La Restinga seit Ende der 1990er Jahre für Segler und Fischer gesperrt. In der Reserva Marina präsentiert sich die Unterwasserwelt heute wieder in schillerndsten Farben, mit zahlreichen Arten von Meeresgetier im kristallklaren Wasser. Und die beiden ausgewiesenen Tauchreviere gelten als die schönsten und besten Europas. Der größte Fisch der Welt, der Walhai, ist hier zu Hause und auch Mantarochen mit einer Spannbreite von sieben Metern, sind keine Seltenheit. Und nicht nur das, auch die Fänge außerhalb der geschützten Zone haben sich verbessert, seitdem Qualität hier größer geschrieben wird, als Quantität.
Im Jahr 2000 ernannte die UNESCO El Hierro zum Biosphärenreservat.

Das aber nur nebenbei – und nun zur eigentlichen Innovationsgeschichte El Hierros. Sie beginnt mit dem Lebenstraum von Javier Morales; einem Agraringenieur und ehemaligem Berater der Inselregierung, der selbst in einem Fischerdorf auf der Insel aufwuchs. Es ist 1995. Zu dieser Zeit läuft die zentrale Energieversorgung von El Hierro über Dieselmotoren. Der Kraftstoff wird von Öltankern zum inseleigenen Kraftwerk gebracht. Schließlich existieren keine Leitungen zum Festland.
Der junge Javier Morales beginnt, sich Gedanken darüber zu machen, wie es zu bewerkstelligen wäre, dass die kleine Insel sich komplett selbst mit erneuerbarer Energie versorgen könnte. Es gibt schon ein Windrad, das die Straßenbeleuchtung speisen soll, aber aus den verschiedensten Gründen funktioniert es die wenigste Zeit.
Das Problem mit den Windkraftwerken besteht darin, dass sich die produzierte Energie nicht speichern lässt. Sie muss verbraucht werden, in dem Moment, in dem sie produziert wird – und sie schwankt. Wenn der Passatwind es krachen lässt, laufen sich die Räder heiß, und bei Flaute kommt die Versorgung zum Erliegen. Das ist das ein Problem.
Und noch ein Gedanke spukt dem Ingenieur im Kopf herum: El Hierro leidet, wie fast alle Inseln unter chronischem Trinkwassermangel.
Wieder und wieder spielt Morales diese beiden Aspekte gedanklich durch – und hat schließlich eine bahnbrechende Idee: El Hierro braucht ein Wind-Pump-Wasser-Speicher-Werk!
Ein Windpark soll gebaut werden, der bei Überproduktion Meerwasser durch eine Entsalzungsanlage in ein höhergelegenes Becken pumpt. Bei Windstille würde das gesammelte Wasser in ein Kraftwerk laufen und dadurch seinerseits wieder Energie erzeugen. So könnte die Insel sich für immer unabhängig von externen Energielieferanten machen und sogar Trinkwasser als Nebenprodukt der Stromerzeugung herstellen.
Es folgten einige Jahre, in denen das Modell von Experten kalkuliert und geprüft wird. Die Idee gilt schnell als einzigartig – aber teuer. 65 Millionen Euro werden für die Realisierung veranschlagt.

Fast zehn Jahre sind seit dem Aufkommen seiner Idee vergangen, als Morales Schützenhilfe bekommt: Der Inselpräsident Thomás Padrón, selbst aus der Energiegewinnungsbranche, begeistert sich für das Projekt. Morales kämpft nicht länger allein.
Die beiden begeben sich auf die Suche nach einem geeigneten Standort: Windig muss es dort sein, die Nähe zur Hauptstadt Valverde wäre wünschenswert und über allem sollte sich ein inaktiver Vulkankrater erheben. Warum das nun wieder? Na, wenn man schon über eine hübsche Anzahl riesiger Krater verfügt, könnte man einen von ihnen doch als Auffangbecken für das Wasser nutzen, das bei Windflaute die Stromproduktion übernehmen muss! Und damit das Wasser auch fließen kann, braucht es noch ein starkes Gefälle. Es gibt für diese Anlage kein Vorbild, an dem sich irgendjemand zu diesem Zeitpunkt orientieren könnte; es gibt nur die Vision und die Vorstellung in den Köpfen zweier Männer.

Schließlich werden Morales und Padrón fündig: 2007 – mehr als zehn Jahre sind inzwischen vergangen – beginnt der Bau des Wind-Wasser-Kraftwerks. Den Anfang machen fünf Windräder, die jeweils 2,3 Mega Watt Strom produzieren können. Der maximale Verbrauch der Insel liegt bei 8 Mega Watt, es sollte also klappen. Den Vulkankrater legt man mit Teichfolie aus, damit das Wasser nicht im porösen Stein versickert. Der neue Salzwasserspeicher fasst eine Menge, die 200 Schwimmbädern gleichkommt.
Es dauert noch einige Finanzierungsengpässe lang, aber einen Inselregierungswechsel später, am 27. Juni 2014 wird Gorona del Viento, wie das Werk nach dem Betreiberunternehmen genannt wird, endlich eröffnet. Bis Ende 2015 ist El Hierro zu 75 Prozent stromautark. Das Dieselkraftwerk wird lediglich noch zur Sicherheit gebraucht.

Es heißt, die Bewohner von El Hierro zahlen noch immer denselben Strompreis, wie zu Zeiten des Dieselkraftwerks. Da die Energie nun aber viel günstiger gewonnen wird, fließen die Mehreinnahmen in den Unterhalt von Schulen und anderen gemeinnützigen Institutionen.
Auf El Hierro gibt es übrigens jetzt auch Straßenlaternen, die mit Solarenergie zum Strahlen gebracht werden und Müllbehälter, die per W-Lan Bescheid sagen, dass sie voll sind und bitte geleert werden müssten. Last but not least, ist man darauf gekommen, dass alte Frittenfett der Restaurants in einer Anlage zu Bio-Diesel zu verarbeiten, mit dem nun die Hälfte der Nutzfahrzeuge der Gemeinde durch die Gegend fährt.

Und apropos „Fahren“: Die Innovateure von El Hierro verfolgen das Ziel, die Insel zum ersten emissionsfreien Ort der Welt zu machen. Dazu müsste es gelingen, alle 6.000 Autos auf Elektroenergie umzustellen oder sie zu ersetzen.
Theoretisch könnte der produzierte Strom auch für die Autos auf der Insel bereitgestellt werden. Der Fahrzeughersteller Renault wurde bereits von dem Gedanken begeistert und stellte auch Testfahrzeuge zur Verfügung. Aber leider stolperte das Projekt bereits in den Kinderschuhen. Von den vier Stromzapfsäulen auf der Insel funktioniert häufig nur eine und die Leihgebühr für die Batterien ist sehr hoch, so dass bisher nur neun Elektroautos auf El Hierros Straßen unterwegs sind. Aber ich bin mir sicher: Kommt Zeit, kommt Strom, kommen mehr E-Cars.
Und – by the way: Stolpern, sogar Hinfallen, und wieder Aufstehen gehört zu jedem Innovationsprozess. Wenn dem nicht so wäre, würde heute wohl niemand von uns laufen können. „Damals“ wäre niemand nach einem Plumps auf den Windelpo (oder auch das erste Langhinschlagen) auf die Idee gekommen, zu sagen: „Ach, das mit dem Laufen lasse ich lieber. Das ist nichts für mich.“ Und auch Bedenkenträger, dieses durch und durch risikobehafteten Unterfangens, polsterten lieber die Ecken scharfer Tischkanten, als uns davon zu überzeugen, das Projekt „Laufenlernen“ lieber anderen zu überlassen. Denken Sie immer daran, wenn Sie Gegenwind für Ihre Innovationen und Ideen spüren!
Warum ich das schreibe? Weil die Energiewende von El Hierro vielerorts diskutiert wird und das natürlich auch von den allgegenwärtigen Bedenkenträgern. Von „Milliardengrab“ ist da ebenso sie Rede wie davon, dass El Hierro es bis heute „nur“ zwei Tage geschafft haben soll, seinen gesamten Energiebedarf selbst zu decken. So what? „Immerhin“, könnte man entgegnen – und die Innovation geht weiter!

Noch einmal zurück zu El Hierro: Das neueste Projekt auf der Insel ist die Umstellung der Landwirtschaft – von konventionellem Ackerbau auf bio-zertifizierten. Der Boden der Insel, auf der es mehr als 1.000 ruhende und erloschene Vulkane gibt, ist sehr fruchtbar. Die lokale Regierung unterstützt die Bauern bei der Neuausrichung ihrer Betriebe, indem sie ihnen günstig Land verpachtet. Außerdem sorgt eine inseleigene Experimentier-Farm für Erkenntnisse über chemikalienfreie Schädlingsbekämpfungsmethoden und Düngemittelfreier Produktion von Tropenfrüchten. Von hier stammen Exportschlager, wie die Bananenstaude. „Ist ja simpel“, mag manch einer denken. Ja, und doch ist vorher noch keiner drauf gekommen. Die Banane des Kolumbus, quasi.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts galt El Hierro als äußerster Rand der Erdscheibe. Im Hinblick auf die Visionsdichte und das Energiekonzept dieses Fleckchen Erde, lässt sich heute aber mit Recht behaupten, dass am ehemaligen Ende der Welt eine ökologischen Zukunft ihren Anfang nimmt.